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Mit Frau S. auf dem Autohof

Als ich Frau S. zu mir rufe, denkt Sie, ich will Sie vertreiben. Dabei wollte ich Ihr nur einige Pfandflaschen geben, die in einer Ecke des Lkw seit Tagen Ihr Dasein fristeten.
Als Sie versteht, kommt Sie zögerlich näher. Zuvor schließt Sie vorsichtig den Deckel der Mülltonne, in der Sie nach verwertbaren Abfall suchte.
Es waren nur drei oder vier Stück, die ich Ihr geben konnte. Aber Sie strahlte über’s ganze Gesicht. Dabei freute Sie sich wohl weniger über die Flaschen, sondern eher über die kurze Aufmerksamkeit, die Ihr jemand schenkte.

Einen Tag später sah ich Sie wieder. Mülltonne für Mülltonne durchsuchend, zwischendurch streifte der Blick über die angrenzende Wiese. Aber Ihre Ausbeute war gering. Klar, es war ja auch Wochenende. Da passiert nicht viel auf Autohöfen.

Als Sie mich sah, hob Sie Ihren rechten Arm. Ich winkte zurück. Vielleicht verstand Sie das als Aufforderung, wieder näher zu kommen. Dabei verspürte ich wenig Lust, mich mit dieser Frau zu unterhalten.
Kurze Zeit später war Sie am Lkw. Ich sagte Ihr, dass ich keine leeren Flaschen mehr habe. „Aber das macht doch nichts„, antwortete Sie.

Mir macht das auch keinen Spass„, fuhr Sie fort. „Aber seitdem mein Mann gestorben ist, bleibt mir oft nichts anderes übrig“!
Ich stimmte Ihr zu. Allein schon deshalb, weil ich es mir nicht vorstellen kann, in Abfallbehältern rum zu wühlen. Dann begann Sie in kurzen Sätzen zu erzählen. Über Ihren Mann, den Sie mit achtzehn Jahren geheiratet hat. Die erste Schwangerschaft mit 21, schließlich das zweite Kind mit 23. Glückliche Jahre waren es gewesen.
Plötzlich, mit neunzehn, hatte Ihr Zweitgeborener einen Unfall. Er fuhr zu schnell, vor dem Baum am Ende der Kurve gab es keine Leitplanke.

Sein Tod veränderte vieles. Der Mann zog sich innerlich zurück, weit zurück. Nicht einmal Sie, die seit mehr als zwanzig Jahren mit Ihm zusammen lebte, kam an Ihn ran. Die verbliebene Tochter zog an das andere Ende der Republik. Besuche sind seitdem selten.

Irgendwann wurde Ihr Mann krank: „An der Seele. Wissen Sie?“ Einige Monate später starb er. Woran und weshalb wagte ich mich nicht zu fragen.
Geld hätten Sie nie viel gehabt. Immerhin reichte es für ein kleines Häuschen. Mit der Hand deutete Sie in Richtung des Dorfes, welches auch der Autohof seinem Namen zu verdanken hatte.

Heute reicht es nicht einmal, um regelmäßig frische Blumen auf das Grab des Mannes zu stellen. Auch deshalb würde Sie Flaschen sammeln. Ob die Leute im Dorf hinter Ihrem Rücken tuscheln, sei Ihr egal.
Schmerzhafter sei, dass sich die Tochter kaum noch meldet. Zum Geburtstag und zu Weihnachten eine Karte, mehr nicht.
Sie würde sie gerne mal besuchen. Aber eine Fahrkarte ist unerschwinglich. Und ausserdem, die lebt ja Ihr eigenes Leben. Das würde Sie nur stören.

Dann geht Sie unvermittelt weiter. Ich schaue Ihr kurz nach, dann verliere ich Sie aus dem Blick. Aber vielleicht entdeckte Sie auch nur eine leere Flasche.

15 Comments

  1. Hajo
    Hajo 03/08/2011

    Einzelschicksale am „Rande der Autobahn“
    eine anrührende Geschichte die wohl auch bei Dir, lieber Maik, leicht unter die Haut gegangen ist.
    Reinhard Mey hat das mal in einem Lied den Satz beschrieben, was zumindest in mir immer wieder hochkommt: „Manchmal schäm‘ ich mich einfach, so glücklich zu sein.“
    https://www.youtube.com/watch?v=h87QhohzdRE
    Gute Fahrt!
    Grüsse
    Hajo

  2. Miki
    Miki 03/08/2011

    Niemand sollte denken „mir kann sowas nicht passieren“. Frau S. war 42, wie ich jetzt, als der Sohn verunfallte. Ich will nicht wissen, was solch ein Schicksalsschlag aus mir machen würde…
    Ich finde gut, dass man mal hinsieht und hinhört. Und schön, dass du es hier (für uns) aufgeschrieben hast.

  3. Florian
    Florian 03/08/2011

    Erzähl ihr beim nächsten mal doch von

    Pfandgeben.de

    hab ich neulich in einem Spiegelartikel gelesen und vielleicht ist das ja auch was für die Dame.

    Beschreibung der Website:
    Wir wollen mit Pfandgeben.de eine Plattform zur Verfügung stellen, die zwischen Pfandflaschen-Besitzern und Pfandsammlern vermittelt. Das Prinzip ist einfach: Pfandgebende können Pfandnehmende auf simple Art und Weise im eigenen Stadtteil finden und per Handy erreichen. Dadurch profitieren beide Seiten: Pfandgebende werden ihre angesammelten Flaschen los, Pfandnehmenden wird die Suche nach Pfand erleichtert. Erdacht und entwickelt wurde das Projekt von Jonas Kakoschke mithilfe von Mareike Geiling und Corinna Northe im Rahmen des Studiengangs Kommunikationsdesign an der HTW Berlin.

  4. highwayfloh
    highwayfloh 03/08/2011

    Sehr bewegender Beitrag!

    Ein ausdrückliches Lob von mir dafür!

    Und auch dafür, dass Du ihr bei der zweiten Begegnung einfach nur „zugehört“ hast, denn dies hat ihr auch „Menschenwürde“ gegeben, selbst wenn Du „Dich“ dabei nicht so behaglich gefühlt hast…

    Aber genau daran mangelt es doch so oft in unserer Wohlstandsgesellschaft:

    Den / die Andere(n) überhaupt zu Notziz zu nehmen und ihr / ihm eine menschwürdige Beachtung zu schenken…

  5. Chris
    Chris 03/08/2011

    highwayfloh hat die Worte benutzt die auch geschrieben hätte! Auf dem AH Stuhr/Groß- Mackenstedt läuft ein älterer Herr auch immer über den Parkplatz und sammelt Flaschen. Ich schätze ihn auf min 70 Jahre und dann schäme ich mich auch. Dafür wie gut es mir geht und wie dieser Staat mit Menschen umgeht.
    @Maik, welcher AH war dass denn?

  6. HHmyPearl
    HHmyPearl 03/08/2011

    Was mich beim ersten Kommentar von HaJo stört ist das Wort „Einzelschicksale“. Dat stimmt leider nicht…

  7. AndiBerlin
    AndiBerlin 04/08/2011

    Es erschüttert mich jedes mal und macht mich traurig wenn ich alte Menschen im Müll nach Flaschen suchen sehe. Und es sind nicht wenige, wenn man mal mit offenen Augen durch Berlin geht.

  8. Hajo
    Hajo 04/08/2011

    @HHmyPearl Du hast selbstverständlich recht, ich hätte besser den gesamten Satz in “ “ setzen müssen.

  9. Ralf
    Ralf 04/08/2011

    Pfandgeben ist mir bei dem Beitrag auch sofort eingefallen.

    Ich mache gerade Pause an der Ohligser Heide und frage mich ob es nicht sinnvoll wäre an Raststätten eine Kiste aufzustellen in der man sein überflüssiges Pfandgut rein stellen kann. Manchmal habe ich ja auch Pfandflaschen von Läden in denen ich nur im Notfall einkaufe gehe. Die stehen dann meist monatelang bei mir Zuhause rum.

  10. Hajo
    Hajo 04/08/2011

    @ Ralf
    Ich habe den Eindruck, dass es diesen Menschen nicht „nur“ um das Einkommen geht, sondern auch um einen gewissen (sagen wir mal) Stolz, selbstständig zu sein.
    Da helfen Geschenke nur bedingt.

  11. highwayfloh
    highwayfloh 06/08/2011

    @Chris:

    ich hab mal anderweitig auf einem Bahnhof anlässlich einer Privatreise diese Szene erlebt:

    Ich hatte mir kurz vorher bei einem der dort reichlich vorhandenen „Verpflegungsstellen“ (Kiosken) zwei belegte Bröchtchen und etwas zu trinken gegönnt. Ca. 20 Minuten später als ich auf dem Bahnsteig auf den Anschlußzug wartete, da stach mir ein älterer Mann – geschätzte 50, sah aber wesentlich älter aus – in Auge.

    Unfauffällig hab ich ihn beobachtet, da ich erst annahm, dass er wohl eben auch mit „Pfandflaschen-Sammeln“ sich seinen „Lebensunterhalt“ wenn man den dann überhaupt so bezeichnen kann – aufbessert.

    Der Schock kam ein paar Augenblicke später. Er hatte eine weggeworfene „Hamburger-Verpackung“ gefunden, diese geöffnet – und so weit ich sehen konnte befand sich noch ein halber Rest von dem Burger darin – den Inhalt offenbar noch für „tauglich“ befunden und diesen genüsslich verspeist.

    Um ehrlich zu sein:

    Zu diesem Zeitpunkt gings mir auch nicht gut und wenn mir diese Zugfahrt nicht „spendiert“ worden wäre, hätte ich sie mir zum damaligen Zeitpunkt nicht leisten können…

    Dennoch hab ich mich geschämt, weil es mir diese Situation vor Augen geführt hat, dass es immer noch andere Menschen gibt, denen es „noch schlechter geht“ als einem selbst…

    und zwar wirklich schlecht

  12. Ralf
    Ralf 06/08/2011

    @Hajo:
    Da helfen Geschenke nur bedingt.
    Na dann hatte die gute Frau S die Freude nur vorgetäuscht?

    Bei Almosen würde ich dir recht geben. Wenn jemand etwas bekommt ohne irgendwas dafür tun zu müssen, dann hat das meistens eher negative Auswirkungen.
    Wenn man aber jemanden bei seiner Arbeit hilft, dann könnte das sogar motivierend wirken.

    Aber es gibt eine andere Sache an die ich nicht gedacht hatte. Würde man die Pfandflaschen in einen Korb stellen, kämen ganz schnell diejenigen die sich nur zu fein sind im Müll rum zu wühlen. Manche Deutsche haben da so eine Gratiskultur entwickelt.
    Wenn man sich nur bedienen und nichts dafür tun muss, dann gehört es einem und man kann sich hemmungslos bedienen.

  13. Hajo
    Hajo 06/08/2011

    @ Ralf
    .. deshalb schrieb ich ja „bedingt“
    Klar hat sie sich ehrlich gefreut (davon gehe ich aus), aber sicherlich auch wegen der Aufmerksamkeit, die ihr zuteil wurde.
    Und das mit der „Gratiskultur“ hast Du m.E. recht gut herausgearbeitet.

  14. highwayfloh
    highwayfloh 06/08/2011

    @Ralf:

    sehe ich genauso. In meiner Heimatstadt gibt es für die Obdachlosen das Projekt „Donaustrudel“ und die Verkaufen auch eine – inzwischen durch Gremien ausgezeichnete – Monatszeitschrift. Ein Teil des Kaufpreises gehört den Obdachlosen, die sich als „Straßenverkäufer“ für diese Zeitung verdingen, der Rest (der geringere Teil) dient zur Finanzierung des Projekts. Die Zeitschrifst kostet 1 Euro und soweit ich es in Erinnerung habe bleiben davon 80 Cent beim „Verkäufer“ und 20 Cent fliessen dem Projekt zu.

    Die Zeitschrift bietet sehr interessantes und oft lese ich auch etwas über meine Stadt, was selbst mir nicht bekannt war (historisches). Inzwischen habe ich da sozusagen meine „Stammverkäufer“ bei denen ich die Zeitschrift dann abnehme.

    Vor ca. 3 Monaten lief mir und Frau Mondzwerg jedoch eine uns „fremde“ Verkäuferin über den Weg und beim zweiten Mal kamen wir ins Gespräch und sie sagte von sich aus, dass sie nichts „geschenkt“ haben will, sondern dies als „Arbeit“ ansieht… nicht so als „Floskel“ sondern glaubwürdig.

    War dann kein Thema, die Zeitschrift dieses mal von „ihr“ zu kaufen und Ihr dazu ein wenig Trinkgeld (wobei dies im positiven Sinne gemeint ist und _nicht_ als „Trink“-Geld zum versaufen – gegeben haben.

    Das Gespräch dauerte bestimmt so ne 1/2 Stunde und am Ende waren Frau Mondzwerg und ich uns einig, dass wir wieder einmal etwas „Menschlichkeit“ in die Welt gebracht haben, indem wir uns auf diese Frau „eingelassen“ haben und Ihr Beachtung schenkten… _keine_ „vorgetäuschte“, sondern echte Beachtung.

  15. ednong
    ednong 02/10/2011

    Ich finde es erdrückend und beschämend, dass unsere Gesellschaft so etwas zu läßt und inzwischen bei vielen Menschen sogar notwendig werden läßt.

    Einfach nur traurig.

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